Philippe Durand

Pascal Beausse, Driften (DE)

Es gibt eine Methode Philippe Durand. Eine Methode, die nichts Systematisches, und noch weniger Wissenschaftliches an sich hat, weil es sich um die Methode eines Künstlers handelt, der die aktuellen Reali-täten empirisch untersucht, und zwar mit dem Mittel der heute bereits überholten fotografischen Repräsentation. Neben einigen Fahrten aufs Land bereiste Philippe Durand in den neunziger Jahren vor allem Städte und urbane Gebiete. Von Barcelona bis Brüssel, von Champclause bis Odessa, von Paris bis Cahors, von Los Angeles bis Nizza sammelte er kleine Hinweise: Spuren des Ursprünglichen, die der stadtplanerischen Banalisierung widerstanden hatten, Archais-men, die sich in den Symbolen der Modernität festgesetzt hatten, Zeichen der Aneignung der Stadt durch den Menschen. Um daraus dialektische Bilder zu gewinnen, in denen sich die Vergangenheit durch Zusammen-führung unterschiedlicher historischer Zeiten in der Gegenwart kristallisiert. Entstanden sind dabei städtische Porträts, die den Stadtlandschaften eines Walter Benjamin ebenso verpflichtet sind, wie den psychogeographischen Recherchen eines Ralph Rumney. Philippe Durands Haltung gleicht einer Mischung aus einem Ethno-grafen, der die industrielle Welt von heute betrachtet, einem Reisenden, der den post-modernen Raum erkundet, einem Touristen, der keine Postkartenbilder reproduzieren möchte und dorthin schaut, wo der Dekor zu bröckeln beginnt. Bei all seinen Abstechern ins Reale widersteht Philippe Durand der Versuchung einer Fiktionalisierung der durch fortschreitende Künstlichkeit und Vereinheitlichung vermeintlich irreal gewor-denen Welt.

Seine Arbeit lässt sich weder auf Kritik noch auf Illustration reduzieren. Es geht ihm vielmehr darum, mit den verschiedenen zur Verfügung stehenden Repräsentations-möglichkeiten zu spielen, um das Mosaikbild einer besonderen Situation zu schaffen. Seine Fotografien scheinen das Resultat einer flüchtigen Aufnahme, einer wendigen visuellen Erfassung der Wirklichkeit in der Art von Schnappschüssen zu sein. Dem ist jedoch nicht so, denn seine Kunst hat mit der street photography nur insofern zu tun, als sie im urbanen (Raum arbeitet, zusätzlich aber die Dimerision des Spiels einführt. Dabei geht es nicht um eine “Ästhetik des Glücksfundes”, sondern um die Aufmerksamkeit für die labilen, unbe-deutenden Dinge, jene Spuren des Lebendigen und der Individualität, die sich nicht normieren lassen. Insofern hat Philippe Durand einiges gemeinsam mit Gabriel Orozco und dessen Vorstellung von der Fotografie als Schuhkarton, als einer Art Lochstanze, die dem Realen ein fertige Konfiguration entnimmt. Es geht dabei - in der Tradition eines Brassa’i oder Dali - um die skulpturale Qualität der Fotografie, der es gelingt, in der Verbindung von einer Parkuhr mit Grünpflanzen, von einem Strauch mit einem Schlauch eine Strassenstatue von unglaublicher Kreativität entstehen zu lassen.

Selbst wenn Philippe Durand verschiedene Untersuchungsmethoden im sozialen Raum einsetzt, sieht er seine Arbeit nicht in der Tradition einer “Kunst der Enquete” im engeren Sinne und mit jener analytischen Tragweite und politischen Dimension, die dieser Begriff erfordern würde. Denn wenn es eine Politik in seinen Fotografien gibt, dann liegt sie sicherlich in der Erotisierung des Realen. Die Welt wird darin in all ihrer gewachsenen Komplexität erfasst. Die Vege-tation kämpft mit dem Asphalt, Pollen verbünden sich mit einem Kanaldeckel. Wir sind hier fern von Gesetzmässigkeiten, Reglemetierungen und Statistiken. Phillippe Durand gibt nie vor, das Reale zu entziffern. Es wird vielmehr durch seine spezifische Wahrnehmung neu verschlüsselt. Foto-grafien von Graffiti im Staub eines Schaufensters bedeuten nichts anderes als das Rätsel, das den Passanten von einem unbekannten Autor aufgegeben wurde. Es geht dem Künstler nicht um die Ableitung einer unumstösslichen Wahrheit, sondern im Gegenteil, um die Verstärkung der Unleserlichkeit.

In dem von Philippe Durand geschaffenen Korpus lassen sich mehrere Kategorien von Bildern unterscheiden. Darunter gibt es, nach den unfreiwilligen Skulpturen von choses modernes über annees nonante bis hin zu doigts, pollution auch Spiegelbilder: Teilchen des Realen, die auf den Oberflächen von Windschutzscheiben und Schaufenstern von aufgelassenen Geschäften erscheinen. Auf diesen abgewandelten Spiegeln begegnen sich ausgebleichte Abziehbilder und weisse Tünche, Werbeplakate mit Models und Automobilen. Die Spiegelung wird wie in einer Technik der Sofortcollage eingesetzt. Für diese Bilder wendet Philippe Durand ein verblüf-fendes System an, das auf der sehr genauen Betrachtung eines Realität-sausschnittes und einem besonders nahen Herangehen an die Dinge beruht.

Philippe Durand ist sich bewusst, was er Raymond Hains zu verdanken hat: den Scharfblick auf das sich ständig verändernde städtische Umfeld ebenso wie seine Assemblagen aus Wortsequenzen oder Wortbildungen aus Abkürzungen, die in einer Mischung aus handgeschriebenen Buchstaben und Werbezeichen gefundene Poesie in bester lettristischer Tradition erzeugen. Die Tafel am Eingang eines Gebäudes, das Schild der Blumenhändlerin, die Auslage des Traiteurs oder das Schaufenster des Apothekers fügen sich in den Fotografien des Künstlers zu einer Poesie des Alltags zusammen. Unglaublich, ein wenig verrückt, resistent gegenüber Moden, weder nostalgisch noch spöttisch, versammelt diese Schule der Poesie jede Menge von Malern und Werbefachleuten, um dem Alltagsleben einen leicht narkotischen Hauch zu verleihen: Elle s’appelle Everblue et je l’aime (Sie heisst Everblue, und Ich liebe sie). Diese schlichte Verzauberung hat nichts Welterschaffendes an sich, sondern entkräftet wirkungsvoll all die traurigen Versprechungen einer langweiligen Standardisierung unseres Lebensumfeldes, die aus der ständigen Berufung der Politiker auf “das Moderne” resultiert. Philippe Durand entwickelt einen ständigen symbolischen Austausch mit dem Realen, das er noch verstärkt, indem er die Unverständlichkeit der Welt in ihrer ganzen fröhlichen Absurdität wiederherstellt. Die Kunst hat heute nicht die Aufgabe, sich dem Realen frontal entgegenzustellen; im Gegenteil, sie sollte sie streifen, in die Informationsgesell-schaft hinein driften und der Kälte nackter Zahlen im Zeitalter des Neo-Liberalismus eine spielerisch-konstruktive Verhaltensweise entgegenstellen. Philippe Durands fotografische Arbeiten erzeugen genau diese Reinheit des Blicks, auf über-mentale Art und Weise.